Moin,
nachdem ich über viele Jahre weitgehend glücklicher Nutzer eines EF 70-200 f/4L IS USM war, habe ich seit letzter Woche das RF 70-200 f/4L IS USM. Im entsprechenden
Beispielbilder-Thread habe ich ein paar erste Bilder eingestellt. Bislang habe ich im Wesentlichen nur einen kleinen Test gemacht, um zu schauen, wie sich das Objektiv bei verschiedenen Brennweiten und Blenden verhält.
Zunächst aber ein paar Anmerkungen zur Objektivkonstruktion. Das optische Design setzt sich aus 16 Elementen in 11 Gruppen zusammen. Vier dieser Elemente sind UD-Linsen, also Linsen mit "Ultra Low Dispersion", die laut Canon dazu dienen, chromatische Aberrationen zu minimieren. Die EF-Version hatte zwei UD-Elemente plus ein Fluorit-Element. Canon behauptet, dass zwei UD-Linsen fast die gleiche Leistung bieten wie eine Fluorit-Linse. Man könnte also erwarten, dass beide Objektive eine ähnliche Leistung erbringen, auch wenn das EF-Objektiv mit 20 Elementen in 15 Gruppen eine deutlich andere Konstruktion ist.
Die Objektive verwenden eine Air-Sphere-Vergütung – etwas, das ich nicht wirklich verstanden habe, aber Canon behauptet, dass diese Vergütung Ghosting und Streulicht unterdrückt. Dies scheint eine Methode zu sein, die erst 2014 entwickelt wurde. Im Artikel "The Minds Behind the Magic" auf der Canon Global Website
https://global.canon/en/technology/interview/element/index.html findet man einige zusätzliche Informationen.
Beim Fokussieren werden zwei Linsengruppen unabhängig voneinander bewegt, jede durch ihren eigenen Nano-USM-Motor. Diese Motoren sind eine weitere recht neue Technologie, die m. W. erstmals im EF 70-300mm f/4-5.6 IS II USM Objektiv zum Einsatz kam. Ich besitze dieses Objektiv ebenfalls und war überrascht, wie schnell (und leise) diese Motoren sind – das Objektiv fokussiert deutlich schneller als das EF 70-200 f/4L IS USM. Nano-USM-Motoren wurden bereits in einer Reihe von RF-Objektiven eingesetzt, aber das RF 70-200 f/4L IS USM ist erst das dritte Objektiv, das zwei dieser Motoren verwendet. Nach meinen ersten Erfahrungen scheint mir auch dieses sehr schnell und leise zu fokussieren. Es soll sich auch sehr gut für die sanfte Fokussierung in Videos eignen, aber dazu kann ich nichts sagen. Übrigens: Während das Objektiv beim Zoomen ausfährt, tut es das beim Fokussieren nicht.
Die Blende hat neun abgerundete Lamellen. Damit sollte das Objektiv schöne Lichtersterne und wahrscheinlich auch ein hübsches Bokeh erzeugen – wobei dafür natürlich mehr als neun abgerundete Lamellen nötig sind. Ich bin aber kein Bokeholiker und kann daher dazu nichts sagen.
Da ich meine Testbilder draußen aufgenommen habe und die Wolken zogen, wurden die Fotos natürlich nicht unter exakt den gleichen Bedingungen aufgenommen, aber trotzdem kann man, denke ich, schon ein bisschen was sagen. Als Kamera kam eine EOS R5 zum Einsatz.
Bei allen Brennweiten, mit denen ich Bilder aufgenommen habe (70, 100, 135 und 200 mm), würde ich sagen, dass die Bilder von der Schärfe her für alle praktischen Zwecke bereits mit Offenblende sehr gut verwendbar sind. An den Bildrändern und insbesondere in den Ecken lässt sich die Schärfe durch Abblenden auf Blende 5,6 noch etwas steigern. Bei Blende 8 lässt sie nach meinem Eindruck schon wieder minimal nach, was möglicherweise daran liegt, dass hier schon die Diffraktion zuschlägt – aber da kann ich mich irren. Bei Blende 11 sieht man das – bei sehr genauer Betrachtung – dann definitiv. Aber wie gesagt: Hier muss man schon sehr genau hinsehen. Für praktische Zwecke, also wenn man Bilder als Bilder angucken will und nicht zu Testzwecken betrachtet, wird man alle Blenden von 4 bis 11 oder auch 16 problemlos verwenden können. Noch kleinere Blenden sind aber natürlich bei jedem Objektiv ein Problem, wenn man keine größeren Sensoren verwendet. Wenn es mir auf größtmögliche Schärfe in der Schärfeebene ankommt, würde ich wohl Blende 5,6 wählen.
Eine Vignette ist bei Blende 4 bei allen Brennweiten sichtbar. Bei 70 mm ist sie recht schwach und dürfte in der Regel nicht auffallen oder gar stören. Mit zunehmender Brennweite nimmt die Vignette zu: Bei 100 mm ist sie schon gut sichtbar, bei 135 und 200 mm sehr auffällig. Blendet man auf 5,6 ab, ist die Vignette bei 70 und 100 mm kaum vorhanden, bei 135 mm sichtbar und bei 200 mm auffällig. Bei Blende 8 ist die Vignette bis 135 mm praktisch nicht sichtbar, bei 200 mm dann aber schon. Da sich die Vignette leicht korrigieren lässt, sollte das also kein Problem sein, vor allem nicht, wenn man auf 5,6 abblendet.
Bei allen Brennweiten und Blenden gibt es leichte chromatische Aberrationen. Die sind aber m. E. zumindest bei den Fotos, die ich aufgenommen habe, ebenfalls eher schwach ausgeprägt und sollten sich ebenfalls leicht entfernen lassen.
Bleibt noch die Verzeichnung. Leider habe ich beim Aufbau etwas schlampig gearbeitet und daher die Kamera nicht ganz gerade ausgerichtet – zu meiner Entschuldigung möchte ich vorbringen, dass das Stativ im Schnee stand und es echt kalt war
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass die Verzeichnung bei 70 und 100 mm sehr schwach ausgeprägt ist, bei 135 und 200 mm ist sie bei dem gewählten Motiv recht gut sichtbar. In der Landschaftsfotografie wird mich das in der Regel nicht stören (außer ich habe einen Horizont im Bild, der gerade sein sollte), so dass ich dort vermutlich meist zugunsten der Schärfe auf eine Korrektur verzichten werde. Aufnahmen von Architektur hingegen werde ich dann allerdings vermutlich korrigieren wollen.
Bleibt das Fazit: Ich werde das RF 70-200mm f/4 L IS USM Objektiv an der EOS R5 wahrscheinlich die meiste Zeit bei Blende 5,6 verwenden oder auf Blende 8 oder sogar Blende 11 abblenden, wenn die Schärfentiefe dies erfordert. Wenn andererseits die Verschlusszeiten zu lang werden und ich den ISO-Wert nicht erhöhen möchte, wäre es für mich auch in Ordnung, f/4 zu verwenden, solange die absolut beste Auflösung bis zu den Rändern oder in die Ecken nicht benötigt wird.
Ich kann das Objektiv nicht mit der f/2,8-Version oder mit Angeboten anderer Marken vergleichen. Vielleicht mache ich einen Vergleich mit dem EF 70-200mm f/4 L IS USM Objektiv, das mir so lange gute Dienste geleistet hat. Von meinen ersten Eindrücken her ist das neue Objektiv nicht schlechter – und das würde mich schon ziemlich glücklich machen, wenn man bedenkt, dass die RF-Version viel kleiner ist, insbesondere an einer Kamera der EOS-R-Serie, da für die EF-Version ein Adapter das Paket in Größe und Gewicht noch vergrößern würde. Der Autofokus scheint mir schneller zu sein und die Mindestfokussierentfernung ist geringer, auch wenn der maximale Abbildungsmaßstab kaum größer ist.
Ist das Objektiv sein Geld wert? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Für mich ist es das auf jeden Fall, wegen der gerade genannten Punkte. Aber für Euch mag das anders aussehen.