Als mein Bruder (vor seinem unerwarteten Tod) im Krankenhaus lag, hatte ich kurz überlegt, mal zu fotografieren, habe mich aber aus Pietätsgründen dagegen entschieden (vor allem meiner eigenen Gefühle, ihm wäre es vermutlich eher egal gewesen). Meine Mutter dagegen hat mit der kleinen Digicam viele Aufnahmen gemacht, alltägliche, wenn er bspw. telefoniert oder gegessen hat und auch nach seinem Tod Aufnahmen von seinem Körper.
Die ganze Situation war extrem stressig, wir haben alle zu wenig Schlaf bekommen, weil man immer Nachtwache bei ihm machen musste und dann nicht schlafen "durfte" und wir waren natürlich allg. mit der Situation überfordert.
Ich habe nach seinem Tod ein kurzes "Protokoll" angefertigt, was an welchem der 21 Tage im Krankenhaus passiert war.
Dann hatte man natürlich die Trauerphase usw.
Und später hat man sich die Fotos angesehen, die meine Mutter gemacht hat, darunter viele, die ich niemals in so einer Situation gemacht hätte (weil er bspw. schweißüberströmt war etc.) und stellte fest, was man alles vergessen oder auch in der Situation gar nicht bemerkt hatte, sich also gar nicht hätte merken/ erinnern können.
Heute stehe ich der Situation immer noch kritisch gegenüber und würde nicht fotografieren, weil es mir einfach peinlich wäre. Aber ich denke, dass man - egal, ob man selbst betroffen oder Angehöriger/ Freund/ "betroffener Zuschauer" ist - in kritischen, stressigen Situationen sehr vieles vergisst und später im schlimmsten Falle gar keine Erinnerungen mehr hat oder nur noch sehr spärliche über Eckdaten, also bspw. keine oder wenige Bilder im Kopf. Das bedeutet, dass die Situation später vermutlich immer undeutlicher erinnert wird oder irgendwann sogar verfälscht oder gar nicht mehr erinnert wird.
Von daher wäre ich fürs Fotografieren, auch ausgiebige Fotografieren kleinster Details, in solchen Situationen. Da meist der Betroffene selbst - egal, in welcher Situation - einfach überfordert ist oder im Rampenlicht steht und nicht fotografieren kann, sollten es Freunde/ Bekannte/ Verwandte machen.
Man tendiert oft dazu, nur schöne Momente zu fotografieren, an die man sich vermutlich auch ohne Fotos erinnert hätte. Die stressigen, schlimmen, belastenden, überfordernden dagegen fotografiert man eher nicht, und später weiß man oft nur noch ungefähr, was da passiert ist oder wie es dort aussah. Das kann helfen, so eine Situation zu verarbeiten, es kann aber auch belasten, zu wissen, dass etwas passiert ist ohne sich konkret daran erinnern zu können. Oft hilft schon ein Foto des Krankenhauszimmers oder Unfallorts oder des Wohnzimmers nach dem Einbruch etc.
Ich denke schon, dass solche Fotos helfen können, die Situation später zu verarbeiten, vor allem "persönliche" Fotos von Details oder Orten, die für andere wenig Relevanz haben.
Ob das unter Traumabewältigung fällt, weiß ich nicht, aber es kann auf jeden Fall helfen, sich an stressige Situationen zu erinnern und später noch mal zu durchdenken, auch wenn kein echtes Trauma vorliegt.
Meine Oma wohnte lange alleine, als ihr Mann im Pflegeheim war. Sie hat damals, trotz analoger Kamera und höheren Entwicklungskosten, einfach alles fotografiert: Jeden Winkel ihrer Wohnung in jeder Situation, alles Mögliche rund um ihren Mann: wie er aß, rasiert wurde, wie sie sein Zimmer dekorierte (alles außer Toilettensituationen...) und nach seinem Tod mehrfach seinen toten, aufgebahrten Körper. Diese Bilder klebte sie in ein Album. Anfangs dachte man, hm, was soll das, aber nach ihrem Tod konnte man das Album ansehen und noch vieles von ihrem Alltag nachvollziehen. Sie tat quasi das, was heute viele in sozialen Netzwerken machen: Jeden Aspekt ihres Alltags zu fotografieren. Und das alles nur für sich allein.
Wie gesagt, später waren die Bilder dann doch für uns relevant.
Meine Mutter hat dann ihre Mutter auch nach ihrem Tod fotografiert, die Bilder sind immer noch auf der Speicherkarte - der Tod ist schon über 7 Jahre her - waren aber wichtig für die Verarbeitung des Todes.
Ich würde das heute nicht machen. Ich hätte, auch durch die Streetfotografiediskussion, zu viel "Angst" oder Sorge vor Fragen, davor, wie ich angsehen werden würde, wenn ich so etwas machen würde, es käme mir komisch vor.
Ich denke aber, dass solche Dinge, die man normalerweise eben nicht fotografiert, später doch sehr der Erinnerung nachhelfen können und auch wichtig sein können, wenn man etwa im Alter vergisst, wie die erste Wohnung etc. mal ausgesehen hat oder die Straße, in der man wohnte etc. - das kann dann der Erinnerung anderer Situationen oder Menschen auch nachhelfen.
LG
Frederica